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Schieneninfrastruktur im Vergleich Was die Schweiz von Deutschland unterscheidet

Die chronische Krise der Deutschen Bahn hat SBB und BAV aktiv werden lassen. Doch wie konnte sich die Schiene in den beiden Ländern überhaupt so unterschiedlich entwickeln? Die wichtigsten Unterschiede im Überblick.

Endstation Grenze: Weil DB-Züge auf dem maroden Netz oft Verspätung einfahren, werden viele von Ihnen in Basel gestoppt. Foto: Gatetan Bally (Keystone)

Es gehört zum guten Ton, dass sich Schweizer Chefbeamte in der hiesigen Presse nicht kritisch über die Probleme von Nachbarländern auslassen. Wenn, dann tun sie das in den besagten Nachbarländern selbst.

Peter Füglistaler, zum Beispiel. Der Chef des Bundesamts für Verkehr (BAV) tourte in den vergangenen Monaten durch die deutschen Medien, von Frankfurt über Stuttgart bis Berlin. Thema Nummer eins seiner Medienoffensive: Die Probleme der Deutschen Bahn.

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Mit einem einzigen Satz in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» sorgte Füglistaler europaweit für Schlagzeilen: «Die Deutschen sind mittlerweile unzuverlässiger als die Italiener.» Letztere würden die vereinbarten Projekte fristgerecht vorantreiben und seien viel strukturierter. Eine bewusste Provokation, wie er später einräumte. Eine, die er als Weckruf verstanden wissen wollte.

Er setzte einen «Weckruf» an die Deutsche Bahn ab: BAV-Direktor Peter Füglistaler. Foto: Marcel Bieri (Keystone)

Fast gleichzeitig stoppten die SBB deutsche Fernzüge in Basel. Ab einer Verspätung von zehn Minuten ist seither für sie im Badischen Bahnhof Endstation. Dies, weil die Züge den engen Schweizer Taktfahrplan durcheinander bringen.

Die Botschaft hinter beiden Aktionen ist dieselbe. Sie richtet sich an die deutsche Politik und ihre Bahn und lautet: Nehmt eure Schienen-Probleme endlich ernst und packt sie an.

Grenzüberschreitender Schienenverkehr ist ein schwieriges Unterfangen. Fehlender politischer Wille, betriebliche und technische Herausforderungen, wie mangelnde Interoperabilität der Strecken oder fehlende standardisierter Elektrifizierungs- und Signalsysteme. Und das sind nur einige Gründe dafür. Nahezu unmöglich wird ein internationaler Zugverkehr auf dem Rhein-Alpen-Korridor, wenn ausgerechnet Deutschland der kranke Mann des europäischen Schienennetzes ist.

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Doch zum ersten Mal in Jahrzehnten scheint die Wende zum Besseren nah: An einem Gipfel Mitte September präsentierte Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) eine Liste von 40 schlechten Bahnstrecken, die bis 2030 generalsaniert werden sollen. Insgesamt sollen gut 4000 des rund 34’000 Kilometer langen Schienennetzes erneuert werden.

Wissing erklärte, dass der Bund die Deutsche Bahn (DB) dafür mit weiteren 12,5 Milliarden Euro Eigenkapital ausstatten werde. Insgesamt steckt die Bahn bis 2027 knapp 40 Milliarden Euro in die Sanierung viel befahrener Strecken.

«Bahn muss endlich zuverlässig werden»: Verkehrsminister Volker Wissing (Bildmitte) verspricht am Schienengipfel in Frankfurt 40 Milliarden Euro für die Bahn. Foto: Lando Hass (Keystone/DPA)

Angemeldet hatte die Bahn eigentlich einen Bedarf von 45 Milliarden Euro. Dirk Flege, Geschäftsführer des Interessenverbandes Allianz pro Schiene spricht dennoch von einer «kleinen Revolution im Autoland Deutschland».

«Es kommt eine Zeit von Blut und Tränen.»

Peter Füglistaler, Direktor Bundesamt für Verkehr
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Die Folgen der Baustellenflut werden in der Schweiz spürbar sein, denn manche Streckenabschnitte sollen für die Sanierung jeweils für fünf Monate komplett gesperrt werden. Ein brachialer Eingriff, der aber nötig sei, sagte Peter Füglistaler gegenüber dem deutschen Radiosender SWR1. Die Bundesregierung habe das Problem mit ihrer Bahn endlich erkannt. Aber: «Es kommt eine Zeit von Blut und Tränen.»

Ein vertiefter Blick auf die Schienen-Situation in Deutschland und darauf, was die DB von der SBB unterscheidet:

Der Unterschied bei der Pünktlichkeit

In Sachen Pünktlichkeit gehört die Deutsche Bahn zu den Schlusslichtern Europas. Foto: Maurizio Gambarini (Keystone/DPA)

Vereinfacht gesagt: Die Schweiz ist Europameister in Sachen Pünktlichkeit – 92,5 Prozent der SBB-Züge kamen im laufenden Jahr pünktlich an. Deutschland gehört zu den Schlusslichtern Europas (64 Prozent im letzten Juni). Der pünktlichste deutsche Bahnhof ist jeweils Konstanz, weil dort viele Züge aus der Schweiz ankommen. Soweit, so bekannt.

Mangelnde Pünktlichkeit ist absolut zentral im DB-Netz. Sie ist zwar nur ein Symptom und nicht die Krankheit selbst. Doch dieses Symptom sagt mehr aus als jedes andere über den schlimmen Gesamtzustand des deutschen Schienenverkehrs.

Der Grund: Pünktlichkeit ist nur möglich, wenn sämtliche Einflussfaktoren zusammenspielen. Ein Beispiel: Im SBB-Netz gab es 2022 laut SBB Infrastruktur 5544 bahnbetriebsrelevante Störungen. Tendenz über die letzten Jahre: stark sinkend. Häufen sich solche Netz-Störungen kommen auch im Bahnbetrieb immer mehr Fehler dazu , etwa bedingt durch Personalmangel oder fehlerhaftes Rollmaterial, dann gerät das gesamte System aus dem Takt.

Genau das ist bei der Deutschen Bahn passiert.

Der Unterschied beim Takt

Nun will die Koalitionsregierung genau diesen Takt forcieren. Der bundesweite Deutschlandtakt orientiert sich am Schweizer Taktfahrplan, den die SBB 1982 eingeführt und laufend verbessert hat. Das deutsche Ziel lautet künftig auch: Züge sollen in jede Richtung jede Stunde zur selben Minute fahren – Fernzüge auf den Hauptachsen alle 30 Minuten.

Die Vorgängerregierung warb mit der Umsetzung des Deutschlandtakts bis 2030. Doch Staatssekretär Michael Theurer (FDP), Beauftragter der Bundesregierung für den Schienenverkehr, sieht diesen erst 2070 vollständig umgesetzt. «Es war immer völlig klar, dass das Jahrzehnte dauert», sagte Theurer dem ZDF.

Fest steht: Mit der vorhandenen Infrastruktur ist dieser Takt nicht zu erreichen.

Der Unterschied bei der Infrastruktur

Deshalb kommt es nun zu einer 40 Milliarden Euro teuren »Wurzelbehandlung« an der deutschen Bahninfrastruktur. Wie der Bund und die SBB in den 1990er Jahren muss das Nachbarland massiv in die Bahnhöfe investieren. Beispiel Berliner Hauptbahnhof: Wie an anderen grossen deutschen Bahnhöfen wurden die Perrons so schmal geplant, dass sich dort regelmässig Reisende stauen. Ohne bauliche Massnahmen ist die vom neuen Deutschlandtakt vorgesehene Verdoppelung der Fahrgastzahlen deshalb nicht möglich.

Der Grossteil der Milliarden fliesst indes ins Schienennetz, das über Jahrzehnte vernachlässigte Stiefkind im Autoland Deutschland.

Wie stark es vernachlässigt wurde, belegen folgende Zahlen: Im Gegensatz zum Schweizer Schienennetz ist das deutsche in den letzten dreissig Jahren nicht gewachsen, sondern um fast 12 Prozent geschrumpft. Im selben Zeitraum hat bei der DB der Personenverkehr um ein Drittel zugenommen. Gar verdoppelt hat sich der Schienengüterverkehr.

Das deutsche Schienennetz ist geschrumpft, während Personen- und Güterverkehr deutlich zugenommen hat.

Doch nicht der Verlust an deutschen Schienenkilometern ist das Hauptproblem, sondern dessen jahrzehntelange Unterfinanzierung:

Zwischen 2010 und 2022 wurden in Deutschland jährlich pro Kopf zwischen 53 und 114 Euro in die Schieneninfrastruktur investiert. Mit Beträgen zwischen 308 und 450 Euro investierte die Schweiz das Fünf- bis Sechsfache pro Einwohner.

Die Schweiz investierte pro Kopf zwischen fünf- bis sechsmal mehr in die Schieneninfrastruktur als Deutschland.

Selbst mit der im Koalitionsvertrag festgeschriebenen «Bahnrevolution» bleibt Deutschland in Sachen Investitionen vorerst weit von Schweizer Verhältnissen entfernt: Die Schweiz steckt jährlich etwa fünf Milliarden in Betrieb, Unterhalt und Ausbau des Bahnnetzes. Das deutsche Netz ist rund siebenmal so gross. Deutschland müsste also jährlich etwa 36 Milliarden Euro in das Netz pumpen, um ähnliche Grössenordnungen wie in der Schweiz zu erreichen.

Das macht die DB aber nicht. Umgerechnet 115 Franken pro Kopf investierte die Ampelregierung im letzten Jahr ins Schienennetz. Im Jahresranking von Allianz pro Schiene liegt das Land damit zehn Ränge hinter der zweitplatzierten Schweiz (452 Franken). Nummer eins ist Luxemburg.

Die Schweiz ist in Sachen Pro-Kopf-Investionen in die Schieneninfrastruktur die Nummer 2 unter den 14 untersuchten europäischen Ländern. Deutschland liegt auf dem 12 Platz.

Mit Grösse und Topographie lassen sich die Infrastruktur-Unterschiede zwischen dem Schweizer und dem deutschen Schienennetz nicht erklären. Mit verkehrspolitischen Prioritäten hingegen schon.

In der Regel kostet Infrastruktur in Alpenländern wie der Schweiz und Österreich pro Kilometer mehr als in einem flachen Land wie Deutschland. Beide Alpenländer investieren seit vielen Jahren aber deutlich mehr in die Schiene als in die Strasse.

Auch unter der Ampelkoalition weiter ein Autoland: Deutschland investierte selbst im letzten Jahr annährend gleich viel in die Strasse wie in die Schiene.

Wenn Verkehrsminister Albert Rösti (SVP) nicht müde wird zu betonen, er wolle Schiene und Strasse nicht gegeneinander ausspielen, so spricht aus ihm seine langjährige Erfahrung als Parlamentarier. Denn in der Schweiz finden Bahnausbauprojekte meist mühelos breite Mehrheiten und sind durch Volksabstimmungen oft breit legitimiert.

Der Unterschied bei der Bahnreform

Für viele liegt die Hauptschuld für den vernachlässigten Unterhalt der deutschen Bahninfrastruktur jedoch nicht nur bei der Politik, sondern auch bei der unbefriedigenden Teilprivatisierung der Deutschen Bahn.

Dabei gibt es mehrere Parallelen zwischen den Bahnreformen in Deutschland und der Schweiz der 1990-er Jahre. In beiden Fällen wurden aus Beamtenbahnen Aktiengesellschaften, beide blieben in vollständigem Staatsbesitz.

In Deutschland entstand im Zug der Reform aus der Bundesbahn und der Reichsbahn jedoch ein weltweit tätiger Logistik-Riese mit insgesamt 579 Tochterfirmen. Mit Blick auf den geplanten und bislang nicht eingelösten Börsengang wurde das Unternehmen für die Bilanzen geschönt. Gleise und Züge wurden auf Verschleiss gefahren, unrentable Strecken und Bahnhöfe stillgelegt und Gewinne in Zukäufe im Ausland investiert.

Der «Vater» der aggressiven Expansionsstrategie der Deutschen Bahn: Ex-DB-Chef Hartmut Mehdorn. Foto: Patrick Pleul (Keystone)

In Deutschland sei «seit der Bahnreform 1994, eigentlich schon seit den 1970er-Jahren zu wenig in die Schiene investiert worden», fasst DB-Fernverkehrsvorstand Michael Peterson in der «Zeit» die Folgen zusammen.

Den wichtigsten Unterschied zur Reform der SBB nannte BAV-Chef Peter Füglistaler in einem Interview mit dem «Tagesspiegel Background»: «Es war nie das Ziel, die SBB an die Börse zu bringen». Um Effizienzsteigerung sei es gegangen und nicht darum, Millionengewinne für Investoren einzufahren.

Dass es in der Schweiz solche Bestrebungen nie gegeben habe, sei ein Vorteil, betont Ueli Stückelberger, Direktor beim Verband öffentlicher Verkehr (VöV). Des Gewinns wegen kurzfristig bei der Infrastruktur zu sparen heisse faktisch, das Netz ungenügend zu unterhalten. «Ein verzögerter Unterhalt holt einen in der Zukunft irgendwann ein – nur wird es dann meist teurer», so Stückelberger. Entscheidend sei, den Erhalt und den Ausbau des Schienennetzes langfristig zu planen.

Der Unterschied bei der Planung

Auf Bundesebene geht in der Schweiz Bahnplanung so: Die SBB schlagen Projekte vor, das Bundesamt für Verkehr wählt aus und das Parlament entscheidet. In Deutschland hingegen gibt es keine von der Deutschen Bahn unabhängige Planungsbehörde wie das BAV, die den Infrastruktur-Ausbau übernimmt und die Prozesse steuert.

Mit der Gründung der neuen Infrastrukturgesellschaft InfraGo will die deutsche Bundesregierung zumindest einen Schritt in die Schweizer Richtung machen – wenn auch nur ein Mini-Schrittchen. Ab Januar 2024 soll die neue Gesellschaft «gemeinwohlorientiert» Betrieb, Sanierung sowie den Aus- und Neubau des Schienennetzes verantworten. Die Gewinne, welche die Gesellschaft etwa über die Trassenpreisen einnimmt, sollen an den Bund und nicht mehr wie bisher an den DB-Mutterkonzern gehen. Der Bund wiederum will die Erlöse postwendend zurück in die Schiene investieren.

Dennoch hält sich der Machtverlust für die Deutsche Bahn in Grenzen. Die Gesellschaft bleibt ein Unternehmen des DB-Konzerns. Zwar wird das Bundesverkehrsministerium über eine Steuerungsgruppe versuchen, mehr Einfluss auf die Bahnplanung zu nehmen als zuvor. Aber welche Strecken erneuert werden und welche nicht, das entscheidet auch künftig der für Infrastruktur zuständige Vorstand der Deutschen Bahn. Somit dreht sich die Bahn auch weiterhin im Kreis. Allein eine neue Haltestation kam dazu.

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