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Transport auf der Schiene Gotthard-Unfall erhöht den Druck zum Handeln

Um eine Rückverlagerung auf die Strasse zu verhindern, fordern Logistikfirmen mehr Kapazität, Koordination und taugliche Ausweichstrecken.

Als noch Normalität herrschte: Ein Güterzug vor der Einfahrt in den Gotthard-Basistunnel. Foto: Urs Flüeler (Keystone)

Der Totalausfall beider Röhren des Gotthard-Basistunnels ruft schmerzhaft in Erinnerung, wie fragil das System des europäischen Schienengüterverkehrs ist – und welche zentrale Rolle das Nadelöhr Gotthard dabei spielt.

Auf der wichtigsten transeuropäischen Güterzugstrecke Rotterdam-Genua stemmt der Gotthard-Basistunnel als Hauptalpenquerung rund 70 Prozent der Transporte.

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Ausweichmöglichkeiten bietet das Bahnnetz kaum. Im kombinierten Transitverkehr transportiert SBB Cargo aktuell etwa 30 Prozent ihres Gütervolumens über den Lötschberg-Basistunnel und den Simplon. Doch kann die Ausweichroute nur einen zusätzlichen Zug pro Stunde und Richtung aufnehmen. Weiter ist die Strecke über den Brennerpass bis am 23. August wegen Bauarbeiten gesperrt.

Die Folgen: Auf den Abstellplätzen in der Schweiz, Süddeutschland und Norditalien stauen sich die Gütertransporte. Zudem bringen Lastwagen die Waren wieder vermehrt auf der Strasse durch die Alpen. Der Urner Polizeikommandant Thorsten Imhof sagt: «Wir beobachten zusammen mit dem Astra die Entwicklung in den nächsten Tagen und Wochen intensiv, damit wir schnell reagieren können.»

Mehr Verkehr auf den Urner und Tessiner Strassen: Das sei die logische Folge einer solchen Störung, sagt Daniel Schöni, Chef des grössten Transporteurs zwischen der Schweiz und Italien. «Der Gotthard ist aus Süddeutschland nach Norditalien nun mal der direkteste und günstigste Weg – trotz Leistungsabhängiger Schwerverkehrsabgabe.»

Reto Jaussi, Direktor des Nutzfahrzeugverbands Astag rechnet auch mit Mehrverkehr an den Alpenübergängen in Österreich und in Frankreich. «Die Herausforderung für die Unternehmen wird sein, genügend Fahrzeuge und Chauffeure zur Verfügung zu haben, um das Volumen transportieren zu können.»

Es droht die Rückverlagerung auf die Strasse

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Doch was, wenn die aktuelle Verlagerung des Güterverkehrs auf die Strasse nicht nur temporär ist?

Im letzten Jahr wurde die vom Bundesgesetz vorgeschriebene Zielgrösse von 650’000 alpenquerenden Lastwagenfahrten noch immer um rund 230’000 Fahrten überschritten. Unabhängig von der aktuellen Sperrung ist zu befürchten, dass viele Transporteure künftig wieder stärker auf den Strassentransport setzen. Der Transport über die Strasse sei in der Regel schlicht schneller und flexibler als der Bahnverkehr, sagt Transporteur Schöni.

Zudem wartet weiter südlich eine weitere grosse Herausforderung auf den Schienengüterverkehr. Aktuell wird der Containerhafen von Genua stark ausgebaut. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) rechnet damit, dass deshalb der Güterverkehr nach und aus Mitteleuropa künftig weniger über die grossen Nordseehäfen abgewickelt wird, sondern über die Mittelmeerhäfen.

Sprich: Zu einem grossen Teil über das Schweizer Schienennetz.

Stellt sich die Frage: Wenn die Güterströme in Zukunft weiter wachsen – kann die Schiene das zusätzliche Volumen aufnehmen oder droht damit unweigerlich die Rückverlagerung auf die Strasse?

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Zur Beantwortung hilft ein Überblick über die Entwicklung des Güterverkehrs durch die Schweiz:

Welche Mengen und Waren transportiert werden

Aktuell werden knapp 40 Prozent des Güterverkehrs auf der Schiene abgewickelt. Gut 69 Millionen Tonnen an Waren wurden gemäss Zahlen des Bundes im letzten Jahr auf diesem Weg transportiert, 11 Prozent mehr als noch im Jahr 2000.

Mit Abstand am häufigsten transportiert werden Metall- und Mineralölerzeugnisse, wobei bei letzteren aufgrund der Energie- und Mobilitätswende in den kommenden Jahren mit einem starken Rückgang zu rechnen ist. Gerade grosse, schwere Güter wie Benzin und Kohle werden weniger.

Der Nord-Süd-Warenstrom in Zahlen

Die Bedeutung der Schweizer Alpenübergänge für den internationalen Güterverkehr zeigt sich an folgenden Zahlen: 2022 wurden auf Strasse und Schiene gut 38 Millionen Nettotonnen Waren durch die Alpen transportiert – 74 Prozent davon per Bahn.

Nach einem Bedeutungsverlust in den 1980er- und 1990er-Jahren hat die Bahn demnach ihren Marktanteil in den letzten Jahren stabilisieren können. Das Fazit des Bundes: Die Schweizer Verlagerungspolitik hat funktioniert. Seit 2010 gingen die alpenquerenden Lastwagen jedes Jahr zurück. Jahr für Jahr wurden zusätzliche Fahrzeuge auf die Schiene verlagert.

Rückgang beim Schienengüterverkehr

Bloss scheint diese Verlagerung nun ein Ende zu finden. Laut Reporting der Litra, des Informationsdienstes für den öffentlichen Verkehr, ist die Transportleistung der Bahn im gesamten Güterverkehr gegenüber dem Vorjahresquartal um 3,2 Prozent zurückgegangen. Im alpenquerenden Güterverkehr fällt der Rückgang gegenüber dem Vorjahresquartal mit minus 4,4 Prozent sogar noch stärker aus.

Besonders bitter aus Sicht der Bahn: Ausgerechnet der kombinierte Verkehr, bei dem der Transport der Container zum grössten Teil auf der Schiene und nicht auf dem Lastwagen erfolgt, stagniert oder geht zurück.

Europaweit ist der Rückgang im kombinierten Verkehr massiv: Gemäss der Internationalen Vereinigung für den kombinierten Verkehr Schiene-Strasse (UIRR) sank die europäische Transportleistung im zweiten Quartal 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um über 14 Prozent. Laut Verband ist es bereits das dritte Quartal in Folge mit einem Rückgang.

Die Forderungen des Logistikers

Logistikunternehmen verfolgen die Entwicklung mit Besorgnis. Als Gründe für den Rückgang nennen sie einerseits den Wettbewerbsdruck durch die Strasse, die infolge des Ukraine-Kriegs gestiegenen Energie- und Bahnkosten sowie die flaue Konjunktur. Gerade Energieintensive Branchen wie die Stahl-, Chemie- und Papierindustrie stehen wegen den hohen Energiepreisen unter Druck. Und da ihre Produkte einen wichtigen Teil der Schienentransporte ausmachen, führt ein Rückgang in diesen Sektoren zu einer Verringerung der Grundlast des kombinierten Verkehrs. Dies wirkt sich wiederum negativ auf das gesamte Netz aus.

«Wir benötigen dringend die volle Kapazität im Gotthard-Basistunnel für den Güterverkehr, um die Verkehrsverlagerung nicht zu gefährden.»

Michail Stahlhut, CEO der Hupac-Gruppe

Andererseits machen die Logistiker aber auch die Bahnunternehmen direkt für den Rückgang verantwortlich, konkret: die kritische Situation auf dem Schienennetz, mit den vielen Engpässen und Baustellen, vor allem in Deutschland.

Michail Stahlhut, Chef der auf den alpenquerenden Güterverkehr spezialisierten Hupac-Gruppe, stellt deshalb klar:«Wir benötigen dringend die volle Kapazität im Gotthard-Basistunnel für den Güterverkehr, um die Verkehrsverlagerung nicht zu gefährden.» Weiter fordert er angemessene Kapazitäten im Bahnnetz sowie eine verbesserte Koordination der Baustellen im europäischen Netz, um Kapazitätsengpässe zu verhindern.

Hupac-Terminal im italienischen Busto Arsizio: CEO Michail Stahlhut fordert «eine  enge internationale Koordination der Infrastrukturbetreiber im Güterverkehr». Foto: Pablo Gianinazzi (Keystone)

Um den Nord-Süd-Warenverkehr auf der Schiene zu stabilisieren, reicht das laut Hupac-CEO Stahlhut aber nicht aus. «Es braucht redundante Strecken, welche bei Streckenunterbrüchen die Volumen aufnehmen können.» Wichtig sei, dass die Strecken in Bezug auf Zuglänge, Zuggewicht und Profil (Eckhöhe der Tunnel) einheitlich seien. So könnten Züge bei Bedarf einfach von einer Strecke auf die andere wechseln.

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